08.00 Uhr früh in einer Psychotherapie-Praxis. Händeringend suche ich nach Gründen, warum es zu einem Ausrutscher, sprich: Alkoholkonsum gekommen ist. Mein Arzt, ein kluger Mann, kennt seine Pappenheimer und lässt mich damit nicht durchkommen. „Keiner der Gründe, den Sie mir für das Trinken nennen, erscheint mir plausibel. Ich glaube, es verhält sich andersherum: Sie suchen Gründe, um trinken zu können. Sie trinken, um sich abzuwerten. Das Muster kommt Ihnen doch bekannt vor, oder…?“.

Sucht tut weh – Nachsorge auch. Den Spiegel vorgehalten zu bekommen, ist unangenehm. Aller Reflektiertheit zum Trotz komme ich oft nicht aus meiner eigenen Haut heraus. Manchmal habe ich schlicht und ergreifend die Nase voll davon, über meine wie auch immer gearteten Verhaltensmuster nachzudenken. Dann hätte ich nicht übel Lust, Therapie Therapie sein zu lassen und den Bettel hinzuschmeissen. Während des Klinikaufenthaltes fühlte ich mich wie eine Musterschülerin. Ich war mit der Haltung eingetreten, radikal jedes Hilfsangebot anzunehmen. Seit Monaten hatte ich mich nicht mehr so unterstützt und bestätigt gefühlt. Ich konnte aus meiner sozialen Isolation austreten, sagen, was ich wollte und was nicht mehr. Die darauffolgende Arbeitsintegration verlief sehr gut, ich funktionierte gut. Trotzdem, und das ist der springende Punkt, werde ich in meinem Alltag immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen. Ich weiss, dass ich meinen Selbstwert immer wieder ganz bewusst stärken und darauf achten muss, was ich will und was mir längerfristig gut tut. Das gelingt mir indes nur, wenn ich weiterhin Hilfe in Anspruch nehme. Dazu gehört, dass ich mir manchmal, wenn auch zähneknirschend, unliebsame Dinge anhören muss.

Direkt nach dem Austritt erlitt meine leichte „Post-Klinik-Euphorie“ einen herben Dämpfer: Kein Empfangskomitee stand bereit, als ich, neu gestärkt, in mein etwas leeres Heim zurückkehrte. Freunde und Familie fanden meine Entscheidung richtig und mutig, doch niemand liess mich hochleben, weil ich freiwillig in eine Klinik eingetreten war. Es fühlte sich ein bisschen so an, als wäre ich auf Reisen gewesen, hätte tausend tolle Dinge erlebt und müsste, zu Hause angekommen, feststellen, dass sich die Erde da einfach weitergedreht hatte. Frechheit. Nicht einmal mein Arzt wollte mich für meine Mustergültigkeit loben. „Sie sind jemand, der gefallen möchte. Lobe ich Sie, werden Sie versuchen, dieses Lob immer wieder zu bekommen. Es geht aber doch darum, dass Sie sich erlauben zu spüren, was für SIE gut ist und sich richtig anfühlt.“ Manchmal könnte ich den Mann vors Schienbein treten, so penetrant recht hat er. Doch möchte ich mich nicht dem Vorwurf der Undankbarkeit aussetzen.

Der Weg aus der Sucht ist kein Sonntagsspaziergang, soviel war mir rasch klar. Doch bleibt jede Erkenntnis graue Theorie, wenn sie nicht mit praktischer Erfahrung verknüpft wird. Diese kann man nur sammeln, wenn man sich darauf einlässt, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Viele der Betroffenen werden die Nachsorge in Angriff nehmen. Viele wahrscheinlich aber auch nicht oder nicht genügend. Der Alltag fordert einen. Es kostet Zeit, Geduld und Kraft, sich immer wieder mit sich selber und etwaigen Rückschlägen auseinanderzusetzen. Ich habe kein Patentrezept dafür, wie man nach dem Klinik-Austritt am besten mit der Sucht umgeht, sonst würde ich jetzt, entspannt lächelnd, an einem sehr weissen Strand einen eisgekühlten Drink schlürfen. Ethanol-frei, versteht sich.

Das persönliche soziale Gefüge spielt zweifellos eine grosse Rolle dabei, ob jemand es schaffen wird oder nicht. Ungeachtet dessen bin ich jedoch zutiefst davon überzeugt, dass das Eingeständnis der betroffenen Person, es alleine nicht zu schaffen, zentral ist. Dem folgt die Erkenntnis, dass ein Klinikaufenthalt für die Suchtbewältigung nicht ausreichen wird, dauert es doch meist mehrere Jahre, bis jemand erstmals in eine Klinik eintritt. Was nach dem Aufenthalt kommt, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Sich über Hilfsangebote zu informieren, auszuprobieren, welches davon einem am besten zusagt, regelmässig (!) entsprechende Termine wahrzunehmen, zeugt von Selbstverantwortung und ist meines Erachtens der beste Weg, um die Kontrolle über sein Leben nicht nur wiederzuerlangen, sondern längerfristig zu erhalten.

Ich persönlich werde mich weiterhin den Therapiestunden mit meinem Arzt stellen. Ich werde Sitzungen beim Blauen Kreuz besuchen. Ich werde hinfallen, wieder aufstehen und einfach jeden Tag mein Leben leben, mit allem, was da kommen mag. So wie wir alle. Ganz sicher jedoch: Ohne Alkohol. Darauf freue ich mich. Ich wünsche allen Südhang-Patientinnen und -patienten von Herzen, dass sie ihren ganz persönlichen Weg aus der Sucht finden mögen, dass sie sich erlauben, auf sich selber zu hören, um bei Bedarf Hilfe suchen und annehmen zu können. Es lohnt sich.